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Die Puppe, der Spieler

in: Stream Live Art Writing | April 2022


Solace, das Stück, das der Puppenspieler Tibo Gebert 2018 uraufgeführt hat, endet mit einer Umkehr. Die Puppe offenbart den Spieler. In der Schlussszene streicht die Puppe mit der Hand über den Kopf des Spielers, zieht ihm die tief in die Stirn hängende Kapuze aus dem Gesicht, zeigt ihn. Der Spieler ist nicht mehr die dunkle, zurückgenommene Gestalt, nicht mehr so un- sichtbar wie möglich, er ist auf einmal da, er ist jemand, der sich sehen lässt.

Hero, das neue Stück, uraufgeführt im März 2022, geht von hier aus weiter, tief ins Herz der Beziehung zwischen Puppe und Spieler. Es ist ein Stück von Zweien, die einander brauchen, um sie selbst sein zu können.

Die Puppe in Hero steht nicht für jemand anderen, sie ist kein Charakter, sie repräsentiert nie- manden; sie ist nicht mehr Kind wie in Solace, sie tritt als Figur zurück und als Objekt hervor. Sie kann auch da sein ohne jemanden darzustellen und von jemandem gespielt zu werden. In vielen Momenten des Stücks ist die Puppe einfach so, unbewegt, auf der Bühne.

Der Spieler in Hero ist kein der Puppe verpflichteter unsichtbarer Meister, er ist ein eigenstän- diger, sich unabhängig bewegender Körper. Man sieht ihn auch für sich, ohne unmittelbare Handlung an der Puppe.

Die beiden, die so grundsätzlich voneinander abhängig sind – die Puppe vom Spieler, damit sie sich bewegen, der Spieler von der Puppe, damit er sich zeigen kann – diese beiden sind in Hero für sich und zusammen. Manchmal sind sie einander sehr nahe, manchmal sind sie weit voneinander entfernt; manchmal sind sie einander in Erscheinung, Bewegung, Ausstrahlung ähnlich, manchmal sind sie sehr verschieden voneinander und die jeweilige Körperlichkeit tritt deutlich hervor.

Das Stück gibt der Puppe und dem Spieler viel Raum. Der Abstand, den es den beiden ein-räumt, die Sichtbarkeit, die es ihnen jeweils verleiht, verändert auch das Puppenspiel im direk- ten Sinn. Der Spieler verschwindet auch in der unmittelbaren Bewegung mit ihr nicht hinter der Puppe, er bleibt als Körper da; die Puppe wird auch dann nicht zur Figur, sie bleibt Objekt. Das ganze Spiel findet zwischen den beiden statt.

Von großer Distanz – zu Beginn sind der Spieler und die Puppe über die Diagonale der Bühne voneinander entfernt – bis zu Nähe, Berührung und Zärtlichkeit erscheint in Hero eine Raum- lichkeit der Gefühle. Der Spieler und die Puppe wenden sich einander zu, sie lassen vonein- ander ab; es entsteht ein Rhythmus aus Annäherung und Entfernung. Das Spiel erinnert an ein Kennenlernen. Die beiden sind einander fremd. Sie sind neu füreinander. Man sieht sie wie in Momentaufnahmen bewegungslos an verschiedenen Orten auf der Bühne; man schaut ihnen zu, wie sie sich miteinander bewegen, von langsam zu schnell, von vorsichtig zu obsessiv; jeweils für sich und zusammen liegen, sitzen, stehen, gehen, tanzen sie.

Das Stück zeigt grundsätzliche Bewegungen und Begegnungen zwischen Zweien, immer zugleich reduziert und affektiv.

Der Spieler und die Puppe öffnen Zwischenräume und als Zuschauer*in beginnt man, nicht nur auf den einen oder die andere zu schauen, sondern auf Abstand und Nähe, auf die Bezüge unter ihnen. In sie taucht man ein, der Sog in diesem Stück ist räumlich.

Der Raum, den die beiden teilen oder besser, den sie erschaffen, indem sie ihn teilen, ist keine mythisch-archaische Welt wie in Solace; die Bühne in Hero ist fast ganz leer. Aus der Leere entspringt zwischen der Puppe und dem Spieler ein eigener, neuer Raum, hier und jetzt. Dieser Raum ist unbekannt, es gibt ihn nicht schon. Er wird nicht bespielt, er geschieht. Das macht das Stück so fremd und im besten Sinn rätselhaft: Alles ist genau das, was es ist – die Puppe ist ein Objekt, der Spieler ist ein Körper, die Bühne ist die Gegenwart der beiden. Es ist alles da und nichts sonst und trotzdem oder eben deshalb erscheint alles anders. Die ganze Ander- sheit ist hier und jetzt, sie liegt nicht in einer fremden Welt, sie ist nicht irgendwo dahinter, sie ist das, was zwischen uns ist.

Diese Einfachheit und Konkretheit des Daseins ist nicht sofort zu erfassen. Man sucht die Bedeutung der Puppe, das, was sie darstellen, die Figur, die sie sein soll, man fragt, wie eine Zuschauerin in Paris: Qui es-tu?, Wer bist du? und die Puppe schaut einfach zurück. Oder man erwartet eine Geschichte, aber in diesem Stück ist Zeit nicht Handlung, sondern Gegenwart des Raums und Gleichzeitigkeit der Körper.

Auch der der Zuschauenden. Im Unterschied zu einer fremden Welt und einer anderen Zeit, die vor und ohne uns, die wir jetzt mit da sind, existiert, weiß dieses Stück um unsere Anwe-senheit und braucht sie. Die Beziehung zwischen Spieler und Puppe entsteht hier und jetzt, vor unseren Augen. Sie ist nicht eingebettet in eine Geschichte. Sie passiert nicht sowieso, un- abhängig von uns. Wir, die zuschauen, sind im selben Raum und in derselben Zeit wie die, die spielen. Wir kommen nicht später dazu. Wir sind in dem, was jetzt geschieht. Es bezieht sich auf uns. Dieser Bezug ist nicht vorher schon da, er entsteht erst im Moment des Zuschauens, immer wieder neu. Die Gleichzeitigkeit des Spielens und des Schauens ändert den Blick der Zuschauenden, sie nimmt ihn mit hinein in die Bewegung. Wir sitzen keiner Geschichte ge- genüber, es gibt keine sichere Distanz. Das Stück kommt nahe. Es zeigt sich, offenbart sich in seiner Unverstelltheit.

Die Puppe ist hinter keiner Figur versteckt, der Spieler verbirgt sich nicht hinter der Puppe. Die beiden treten auf als die, die sie jeweils sind.

Und dennoch, von ihrem archaischen Anfang als Ritualgegenstand an war die Puppe ähnlich wie die Maske ein Zugang zum Anderen; ein komplexes Objekt, mit dem Unsichtbares sichtbar wird, auf Abwesendes zugegriffen werden kann. Und es gibt diese ursprüngliche Funktion der Puppe auch in Hero, einem absolut zeitgenössischen, rein gegenwärtigen Stück: Der Andere der Puppe ist hier der Spieler selbst. Indem die Puppe einfach da und sie selbst ist, lässt sie den Spieler frei. In diesem freien Bezug spielt der Spieler nicht die Puppe, sondern mit ihr. Im Spielraum zwischen sich und ihr wird er sichtbar, erscheint sein Gesicht und sein Körper. Der Spieler entpuppt sich als er selbst.

Der*die werden, der*die man ist: Selbstwerden ist ein*e Andere*r werden. Der*die Andere ist der*die Held*in des Stücks.

Es gibt in Hero eine Szene, die aus dem Bühnenbild kommt, einem großen Stück Stoff, das leicht rechts vom Zentrum auf der Bühne bis zum Boden herabhängt. Es sieht aus wie ein schmales hohes Zelt, der Stoff ist dicht und hat eine organische Struktur, er ähnelt Haut, aber er lässt das Licht durch.

Gegen Ende des Stücks sind der Spieler und die Puppe in diesem vom Stoff geformten Raum. Sie sind verhüllt. Auf den Stoff wird ein Videobild projiziert, es zeigt die sich leicht bewegenden Umrisse eines Körpers.

Hinter dem Stoff sieht man den Spieler und die Puppe sehr schemenhaft, man ahnt mehr als dass man es sieht: Der Spieler zieht die Puppe um.

Die beiden treten wieder hervor, die Puppe trägt einen Umhang, die bisher sichtbaren Arme, der Kopf, die Haare sind verdeckt. Kurz danach, nach einem Augenblick in völliger Dunkelheit, sieht man den Spieler ohne den Hoodie, den er bisher getragen hat, die Arme, der Kopf, die Haare, das Gesicht sind jetzt deutlich sichtbar. Die Puppe ist verkleidet, der Spieler ist entblößt.

Das Ende überblendet innen und außen, Vorhang und Umhang, Projektion und Körper, Puppe und Spieler. Die Veränderung findet statt, zugleich in der einen und im anderen, ausgestellt und verborgen.

Das Stück Stoff, das auf der Bühne hängt, hinter dem ein Stück Stoff um einen Körper gelegt wird und vor dem ein Stück Stoff abgelegt wird, ist wie alles in diesem Stück genau das, was es ist. Es stellt das Theater selbst noch einmal aus: Vorhang und Kostüm. Die Bühne ist der Ort der Verwandlung schlechthin.

Fotos, Credits, Spieltermine zu Hero
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