Körper, Raum, Text, Publikum, Bewegung.
Zu unserer Zusammenarbeit bei Aeon. The Stay | with Laura Siegmund | in: Stream Live Art Writing | November 2020Die Arbeit Aeon wurde bei der Tanznacht Berlin 2020 gezeigt. Sie fand an drei verschiedenen Orten statt, auf zwei Brachen in Lichtenberg und in einem Studio in den Uferstudios im Wedding. Die erste Brache wurde von Moritz Majce mit insgesamt neun Tänzer*innen bespielt, die zweite von mir (SM) mit drei Performer*innen und die dritte Station war eine Rauminstallation mit Filmscreening von gemeinsamen (MM + SM) Videos. Eine Dokumentation der ganzen Arbeit gibt es hier.
Aeon. The Stay ist der Name meiner Etappe dieser dreiteiligen Arbeit und Laura Siegmund (LS) eine der Performer*innen auf der zweiten Brache in Lichtenberg, die beiden anderen sind Lisa Densem und Joséphine Evrard.
Der hier folgende Text von bzw. Dialog zwischen Laura und mir ist eine Reflexion unserer Zusammenarbeit, so wie sie sich aus unseren Interessen, Bedürfnissen und den Bedingungen und Notwendigkeiten dieser Arbeit ergeben hat. Wir schreiben unsere Gedanken auf und veröffentlichen sie, weil wir glauben, dass wir auf grundsätzliche, über unsere Arbeit hinausweisende Fragen getroffen sind: Wie entsteht Bewegung als Kunstform? Was ist Choreographie? Und was ist Bewegungskunst jenseits von ihr?
Voraussetzungen
SM: Es war von vornherein klar, dass wir auf dieser bestimmten Brache in Lichtenberg arbeiten werden, und es war auch ganz klar, wo ihr jeweils auf diesem Gelände sein werdet. Wir beide haben dort zum Beispiel nie woanders gearbeitet als genau an dieser Stelle in der Nähe der Straße, auf dem Asphalt, der mit seinen Parzellen von ehemaligen Parkplätzen übriggeblieben ist. Wir sind also ab Juni und bis September immer wieder und regelmäßig auf diese Brache gegangen, an diese bestimmte Stelle. Wir haben uns über den Raum dort unterhalten und seine Eigenart – vor allem die Weite; abgesehen vom Raum und seinen Qualitäten gab es von Anfang an noch den Text – Die nackte Erde. Eine der Fragen dieser Arbeit war, was der – für dich neue – Akt des Sprechens und zwar des Sprechens eines Texts mit dir, deinem Körper und deinen Bewegungen macht. An der ausgesuchten Stelle auf der Brache und mit dem Text – die beiden Dinge kamen als Input und Kontext von mir – hast du begonnen, dich zu bewegen, und ich habe begonnen, dir sehr lange zuzuschauen.
LS: Zu Beginn dieses Jahres habe ich mich gefragt, warum ich nie mit dem Gedanken warm geworden bin, selber zu choreographieren. Es gibt unterschiedliche Gründe – einer der Gründe hat mit deiner Arbeit zu tun. Denn diese eröglicht mir in einem größeren Maße als üblicherweise in einer Choreographie das, was ich als Tänzerin am liebsten mache: Das Spüren und Bewegen aus dem Moment heraus. Ich schätze es, mit dem, was da ist, zusammen zu sein und davon immer wieder neu bewegt zu werden. Es gibt für mich einen Konflikt zwischen dem „bewegt-Werden“ aus dem Moment heraus und Choreographie, der mich schon länger beschäftigt. In deiner Arbeit gibt es diesen Konflikt nicht, weil du nicht choreographierst, sondern einen inspirierenden und unterstützenden Rahmen für meine Kunstform in deiner findest.
Ich habe mich gefragt, ob das Tanzen damals die richtige Entscheidung war. Es gibt für den professionellen Tanz (der, für den man bezahlt wird) hauptsächlich das choreographierte Stück. Auch eine Performance in einem Museum oder einem offenen Raum hat meistens als solche eine bestimmte Form. Lieber als in einem geformten Stück oder in einer Performance möchte ich mich in einer passenden Kondition/Bedingung bewegen. Dass ich mich durch die Zusammenarbeit mit dir wenige Monate später in einem Rahmen befinde, der zu meinen Interessen passt, macht mich sehr glücklich. Du arbeitest, was die Performer*innen betrifft, nicht an einer choreographischen Vision – du arbeitest an den Bedingungen, die einen durch seine Relationen und Verbindungen vollkommen „hörenden Körper“ ermöglichen. Ich verbringe selber Stunden damit, über meine Sinne Verbindungen einzugehen und deren „Nachklänge“ in mir zu spüren – mit dem Körper zu hören. Das ist meine Leidenschaft. Also fühle ich mich willkommen in deiner Arbeit.
Der Bezug zu einem Text ist neu für mich. Um so unvoreingenommener und freier konnten wir uns an die Arbeit machen. Ich konnte so oder so mangels ausgebildeter Stimme nichts schön und richtig machen – es gab nichts zu verlieren. Und du hast mir versichert, dass du keine bestimmte Vorstellung von einem Ergebnis hast und nichts von mir erwartest, was eine geschulte Stimme voraussetzt. Es gab keinen „Masterplan“.
Wir haben Anfang 2020 vier Tage lang im Studio gearbeitet, in denen ich freien Lauf mit festen Bezügen zu Stimme und Text hatte. Danach haben wir uns darüber unterhalten, was passiert ist – wann zum Beispiel Fragen oder Unsicherheiten aufgetaucht sind.
Dein Text ist sehr inspirierend. Er hat mich von Anfang an bewegt, und tut es immer noch. Sowohl das Denken als auch das Aussprechen im Zusammenklang mit meiner Tanzpraxis ist berührend und überraschend. Es haben sich andere Szenen und neue Bewegungen ergeben als üblicherweise in meinen Improvisationen. Und genau in diesem Moment am Anfang des Jahres, nach unseren motivierenden „Try Out“ Tagen, als sich dieses weite neue Untersuchungsfeld geöffnet hat, kam der Corona Lockdown. Ich habe monatelang mit mir selbst, meiner Stimme und deinen Texten in meiner Wohnung verbracht, bis wir uns wieder getroffen haben. Das war dann im Sommer draußen auf der Brache in Lichtenberg.
SM: Auf der Brache und beim Zuschauen war ich damit beschäftigt, zu verstehen, was genau hier im Zusammenspiel von Ort, Bewegung und Text geschieht. In meinen Notizen im August beschreibe ich das so:
An der Stelle, an der Laura ist, nicht weit von der sechsspurigen Straße entfernt, ist die Bewegung des Außenraums vor allem Lärm. Der Verkehr variiert je nach Tag und Uhrzeit, Einsatzfahrzeuge und Lkws sind mal mehr, mal weniger dominant. Ausgesetzt an dieser Stelle bewegt sich der Körper an mehreren Limits und entlang von Transformationen.
Der Beton mit seiner jetzt im Sommer gespeicherten Wärme wird zu einer Art Nest. Der Boden ist weich. Er wölbt sich, er öffnet sich. Rundherum ist Weite, man sieht in die Ferne. Je nachdem, von wo aus man auf Laura schaut, ist ihr Körper sehr klein oder sehr nahe, jedenfalls gibt es einen herausragenden Bezug zur Weite zwischen Exponiertheit, Fragilität, Freiheit. Der Lärm der Straße ist brutal und an der Grenze zu Gewalt. Man hört hier an dieser Stelle die Unmenschlichkeit von Technik, die Maßlosigkeit, das Zuviel.
Laura bewegt sich nah am Boden, aus dem Boden heraus, in Kontakt mit ihm. Sie liegt, sie richtet sich auf, stützt sich auf die Arme, kniet, hockt, sitzt, richtet sich weiter auf bis auf halbe Höhe, steht auf, dreht sich, weitet die Arme und öffnet die Brust. Sie ist auch dann noch nah am Boden, wenn sie schon steht. Aus dem Boden heraus erweitert sich die Bewegung und setzt sich in die Ferne fort. Es gibt einen Fluss in ihren Bewegungen, der sehr langsam ist und sehr still. Die Stille ist der Sound, dem sie folgt; der sie bewegt. Ihre Bewegungen öffnen eine Stille mitten im Chaos des Lärms. Mitten in der Überwältigung gibt es ein Moment des Insichruhens. Dieses Insichruhen ist eine eigenständige Bewegung. Ihr gibt sich Laura hin.
Mit dieser Hingabe bewegt sich Laura im Einklang mit einem Sound, den wir als die, die stehen, sitzen und zuschauen, durch ihre Bewegungen erfahren. Wahrscheinlich schauen wir weniger, als dass wir den Bewegungen zuhören. Lauras sich bewegender Körper ist vollkommen hörender Körper. Er hört so lange und so intensiv, er hört überall die Bewegung der Stille. Er hört sie in sich, in den Bewegungen des Körpers selbst, er hört sie in dem Text, der in ihrem Körper ist und er öffnet durch dieses Hören die Stille selbst in der Unerträglichkeit des Lärms. Laura setzt nicht dem Lärm die Stille entgegen, sondern sie öffnet die Stille mitten im Lärm. Irgendwann wird der Verkehr ein Strom, eine unbestimmte Bewegung, die uns nicht attackiert, sondern durch uns fließt. Der Text, den Laura hört, während sie sich bewegt, ist sehr pur und sehr fremd – Die nackte Erde. Sie hört ihn die ganze Zeit. In manchen Momenten öffnet sich der Soundkanal ihres Körpers und sie spricht.
LS: Es geht mir in meiner Arbeit immer um eine Stille. Eine Stille, die, wenn ich ihr zuhöre, lebendig wird. Es ist eine durchlässige und aufmerksame Stille, die alle Bewegungsrichtungen im Raum und in mir als nächste ermöglicht.
Ich improvisiere nicht frei. In Aeon gibt es klare Bezüge. Ich verhalte mich zum Raum, zu deinem Text und zu den anderen Menschen. Ich nehme die Effekte meiner Bezüge wahr und horche ihnen mit meinen Bewegungen und meinen Gedanken nach.
Der Text Die nackte Erde ist für mich wie ein Soundtrack. Ich denke ihn und höre auf den Nachklang in mir.
So wie ich Bewegungen wachsen lasse, wächst auch die Sprache und der Kanal für die Sprache nach außen. Immer öfter spreche ich den Text aus. Dabei gibt es kein Aufsagen, und für das nicht-Aufsagen keine Dauer. Alles entsteht und wächst zusammen.
Bewegung
SM: Ich versuche an Bedingungen zu arbeiten, nicht an Ergebnissen. Der konkrete Ort mit den Besucher*innen und der Text sind für mich Bezugsgrößen, die mir und dir ein Gemeinsames ermöglichen, das zugleich offen ist. Wir sprechen viel über sich beziehen, über Präsenz als Relation, über das Affiziert- und Bewegtwerden von etwas Bestimmtem hier und jetzt: einem Wort, einem Klang, einem Blick, einer Berührung des Bodens, der Sonne auf der Haut etc. Für mich geht es um eine Quelle und nicht um eine Form. Gelingt es, gemeinsam die Quelle zu finden, die für mich immer etwas mit dem Entspringen eines Bezugs hier und jetzt zu tun hat, erfüllt sich etwas. Es ist dabei nicht wichtig, die Quelle zu bestimmen, sie in (dieselben) Worte zu fassen, sie ist grundsätzlich offen und trotzdem teilbar. Wir arbeiten zusammen in langen Sessions bzw. in Sessions, die immer länger werden, bis zu 2,5 Stunden. Ich schaue dabei auf relativ konstante Weise zu: mich interessiert vor allem, was die Bewegungen mit dem Raum machen, wie sie ihn verändern; ich bemerke bzw. sage etwas, wenn ich das Gefühl habe, dass in der Session als solcher etwas nicht stimmt; es gibt keine Bewegungen, die für mich ein No Go wären, ich schließe nichts aus, wichtig ist der Sog. Ich verfolge und registriere über die Dauer einiger Sessions eine Entwicklung: durch den Text und die Weite des Raums, aber vor allem durch den Text, den wir beide als “Fremdkörper“ anerkannt haben, kamen neue Bewegungsweisen hervor, bestimmte, sehr eigenartige mechanisch- organische Bewegungen; und über die Vertiefung und Wiederholung wurde der Sog insgesamt immer dichter und immer freier. Ich bin die Autorin des Texts, die Installateurin des Kontexts und die ausdauernde Zuschauerin. Die Bewegungen sind deine Autonomie.
LS: Wenn alles stimmt, komponieren sich die Bewegungen selber, und es gibt keine Zweifel, kein Probieren und keine Fragen. Wenn in unseren Sessions etwas nicht gestimmt hat, war ich meistens gedanklich mit etwas Störendem beschäftigt. Du und ich haben schnell gemerkt, dass „genügend Zeit haben“ ein wichtiger Faktor ist. Sobald ich denke, ich befinde mich jetzt in einem Zeitfenster, in dem etwas Bestimmtes passieren muss, lenkt es mich davon ab, mich aus dem Moment heraus zu bewegen und ihm mit Hingabe zu begegnen. Das Öffnen, das hierfür nötig ist, wird blockiert. (Ich weiß, dass ich als Tänzerin die nötige Freiheit für das Öffnen in einer Form finden kann – und das ist auch sehr spannend, aber es ist doch anders...) Ich fühle mich gedrängt. Ich fühle mich nicht mehr gedrängt, wenn ich weiß, ich habe wirklich viel Zeit. Erst dann kann ich mich dem hingeben, was die Bezüge in mir auslösen. Es hat sich für uns ein zeitlicher Rahmen von bis zu 2,5 Stunden entwickelt. Dann habe ich die nötige Ruhe, um nicht mehr davon abgelenkt zu sein, für irgendetwas keine Zeit mehr zu haben oder noch etwas Bestimmtes schaffen zu müssen. Ich kann auch den Text dann in Ruhe auf mich wirken lassen. Dass ich ihn nicht unbedingt aussprechen muss, ist mir dabei ebenso wichtig wie die Zeit. Ohne Druck und mit der Zeit wird das Erleben von dem, was da ist, für mich interessanter und intensiver.
In meiner Vergangenheit als Tänzerin ging es immer darum, in einer Choreographie für eine Szene genau den hierfür ausgearbeiteten richtigen Ton zu treffen. In Aeon bin ich nicht dadurch gelenkt, den einen richtigen Ton zu einer bestimmten Zeit finden zu müssen. Es ist hier möglich, dass ich mich direkt von dem bewegen lasse, was die Bezüge in mir auslösen. Das bewegt-Werden durch die Bezüge und der hörende Körper heben „richtig“ und „falsch“ aus den Angeln.
Was mit mir passiert, entsteht durch meine Bezüge in diesem Moment in diesem Raum. Und wie sich das äußert, was mit mir passiert, hat gleichzeitig Geschichte: Einflüsse und Inspiration durch Kolleg*innen, aus Ausbildung und Studium, Interessen, Ideen, Veränderungen, Wissen – meinem Leben.
Durch unsere langen Sessions und Rücksprachen hat sich ein Vertrauensverhältnis zwischen uns entwickelt. Wenn sich für mich etwas richtig oder nicht richtig angefühlt hat, dann auch für dich. Fragen konnten immer gut geklärt werden. So kann ich meinem eigenen Gespür und meiner Intuition dafür, was funktioniert, zunehmend vertrauen. Für mich als Tänzerin ohne Choreographin ist das ein wichtiger Punkt, um mich sicher zu fühlen.
SM: Man denkt meistens bei Bewegung als Kunstform an das Formen von Bewegungen, bei Bewegungsformen an Choreographie, bei Choreographie an ein Stück und bei einem Stück an Bühne, begrenzte Zeit und Zuschauer*innen. Ich habe das Gefühl, dass einiges an dieser Gleichung nicht mehr stimmt. Für mich gibt es einen sehr einfachen Grund mit Performer*innen zu arbeiten, und das ist Präsenz. Präsenz ist keine esoterische Aura, sondern das herausgestellte, intensivierte Bezogensein eines Körpers auf andere Körper bzw. auf seine Umgebung als Ganzes. Der Körper ist hier und jetzt ganz da, d.h. er ist in Kontakt mit allem, was ihn umgibt. Und die anderen Körper – Besucher*innen, Zuschauer*innen – werden Teil dieses intensivierten, spürbaren Gefüges namens Gegenwart.
In Kontakt sein mit allem, was einen umgibt, ist Fluss, ist Bewegung. Es ist Bewegung, die aus dem Affiziertwerden, Berührtwerden, aus der Aufnahme, der Resonanz, dem Hören, Empfinden dessen, was da ist, entspringt; das dem folgt, was sich bewegt, bevor man „sich selbst“ bewegt. Es ist Hingabe an bereits laufende Bewegungen – im Körper, um den Körper herum, durch den Körper hindurch. Das ist es, was mich interessiert, wenn es um Bewegung geht (das Sprechen ist nochmal etwas anderes).
Diesen weit in die Umgebung offenen, ausströmenden Fluss – Ausdehnung und Verdichtung von reiner Bewegung – kann man nicht choreographieren, wenn Choreographieren Organisation von Zeit, ein Arrangement von Bewegungen in der Zeit bedeutet.
Gleichzeitig ist dieser Fluss, den ich meine, diese massive und zugleich durchlässige und fragile Öffnungsbewegung, nichts Beliebiges, nichts Zufälliges, nichts Diffuses, sondern etwas sehr Genaues und in gewisser Weise auch Technisches. Man muss dieses sich-Bewegen- Lassen von dem, was eine*n affiziert, können. Das heißt, dass der Körper sensibilisiert ist, dass er trainiert ist, dass der ganze Empfindungs- und Wahrnehmungsapparat geschult und getuned ist, dass es Erfahrung, Methoden etc. gibt, dieses genaue und umfassende „Hören“, dem die Bewegung folgt, in Gang zu setzen. Und es braucht Mut, Reife, Unbeirrbarkeit, das dann auch wirklich durchzuziehen, es als Performer*in vor und mit Publikum so zu machen, sich nicht auf einmal doch einen Verlauf, eine Form, andere Anhaltspunkte als die aktuellen Öffnungen auf die Umgebung zu wünschen, sondern voll und ganz dabei zu bleiben, komme was wolle. Aus diesem Verständnis von Präsenz als bewegt-Werden ergibt sich für mich alles andere: ein anderes Verhältnis von Raum und Zeit, ein anderer Bezug zum Publikum und schließlich meine eigene Rolle in der Zusammenarbeit.
Ein anderes Verhältnis von Raum und Zeit ist es, weil das Ausstellen dieses fundamentalen Akts des sich-bewegen-Lassens raum- und nicht zeitbezogen ist. Die Bewegung, die mich interessiert, braucht Raum. Sie bringt die Zeit als Taktung und Begrenzung zum Verschwinden. Es ist kein Zufall, dass das, was wir hier skizzieren, in einer Arbeit mit dem Titel Aeon erstmals zu sich gefunden hat: Aeon ist das andere der chronologischen Zeit. Eine Zeit, die zum Raum wird (oder ein Raum, der zur Zeit wird – es ist beides). Auf jeden Fall ist es in diesem Zusammenhang völlig uninteressant, welche Bewegung auf welche folgt, ob es so oder so beginnt und endet. Das einzige, was interessant ist, ist dass es stattfindet, hier und jetzt tatsächlich geschieht. Dafür braucht es eine Dauer, die nicht im Weg steht. Aktuell sind das bei uns 2,5 Stunden. Das ist lange genug, um nicht mehr als Stückeinheit wahrgenommen zu werden (weder beim Tun noch beim Zuschauen) und kurz genug, um nicht selbst das zu werden, worum es geht (als Limit, etwa in Form von Erschöpfung).
Diese Art sich zu bewegen, dieses Ausstellen eines Bewegungsflusses statt des Choreographierens von Bewegungsformen, ist eine andere Kunst als ein Tanzstück zu machen.
Wirklich interessant ist aber, dass es das eben gibt, dass es also möglich ist, mit Bewegung als Kunst zu arbeiten, ohne dass es Choreographie und ohne dass es ein Stück ist. Vielleicht, darüber könnte man nachdenken, ist es dann „Tanz“ in seiner pursten Form: das Entspringen von Bewegung aus dem Hören. Das permanente immer wieder Form-Werden aus einem plastischen Bezogensein heraus.
Wie auch immer, der Unterschied, um den es hier geht, liegt, glaube ich, tiefer als der zwischen Performances auf der Bühne und im Gallery Space. Es hat wirklich damit zu tun, wie das Verhältnis zwischen Raum und Zeit sich im Kunstwerk selber artikuliert: Geht es darum, dass sich ein Körper in der Offenheit, die er ist, hier und jetzt auf sich und seine Umgebung bezieht und sich aus dieser Bezogenheit heraus bewegt? Oder geht es darum, bestimmte (davor gestaltete, gefundene...) Bewegungen in der Zeit anzuordnen und zu zeigen?
Das sind zwei grundsätzlich verschiedene Zugänge, die auch völlig andere Beziehungen zum Publikum bedeuten: In der choreographierten Performance gibt es schon allein durch den Verlauf in der Zeit eine klare Orientierung am Zuschauer als Subjekt oder anders gesagt, es gibt ein bestimmtes Verhältnis zwischen Choreograph, Zuschauer und Zeit: Der Choreograph will, dass der Zuschauer zuerst das und dann das sieht und dass er überhaupt zum Zeitpunkt X diese bestimmte Bewegung sieht. Das setzt natürlich voraus, dass die Tänzerin genau dann genau das macht. Choreographie als Theater bearbeitet die Frage Und was kommt als nächstes? und die wird im Probenprozess beantwortet. Der Zuschauer sieht das Resultat. Er setzt sich hin, und dann wird ihm der geprobte Zeitverlauf als Körperbewegung vorgeführt.
Im Fall des Bewegungsflusses, der hier und jetzt in und aus einem Bezugsgefüge stattfindet, komme ich als Besucher*in dazu. Es ist alles da, es läuft, ich stoße dazu, ich bleibe, ich gehe. – „Es“ war da, bevor ich kam, „es“ bleibt auch noch, wenn ich weg bin. Daher taucht bei manchen Besucher*innen das Gefühl auf, es könnte auch ohne sie stattfinden. Tatsächlich ist es kompliziert, was sich zwischen Publikum und Performance abspielt: Es werden Momente geteilt, Begegnungen finden statt, aber sie passieren; sie sind weder für diesen bestimmten Moment vorgesehen, noch ist die Zeit als Ganze für die Begegnung mit dem Zuschauer bestimmt. Wir teilen nicht eine Einheit mit Anfang und Ende, wir teilen den Raum dazwischen (der voll ist mit Anfängen und Enden, aber eben als Teil des Flusses). „Es“ kommt aus einem mittendrin-Sein, schon in-den-Bezügen-Sein.
Das herauszustellen ist etwas anderes als Choreographie. Wahrscheinlich hat es in seinem Raumbezug mehr mit Installationskunst zu tun. Gleichzeitig erinnere ich mich im Zusammenhang mit solchen Fragen immer wieder daran, wie konsequent z.B. Laban in seiner Choreutik die Bewegung aus dem – von ihm dynamisch verstandenen –
Raum heraus denkt. Die Idee der Choreographie als Autorin von Bewegungen für zeit- und stückbezogene Kunstformen dominiert; aber es gibt etwas im Verhältnis oder besser in der Bewegung von Raum und Zeit selber, das etwas anderes hervorbringt. Es ist faszinierend, dass sich die Freiheit der Bewegung den Bezügen verdankt und einer Zeit, die sie nicht vorherbestimmt.
Körper
SM: Für mich und das, was mich künstlerisch interessiert, ist der Körper ein Sensorium – er fühlt nach innen und nach außen, und das geschieht mit allen Sinnen. Alle Öffnungen, Poren werden Rezeptoren, Aufnahmegeräte, Antennen für die innere und äußere Umwelt. Die Empfindungen sind die ersten Bezüge, die ersten Bewegungen. Durch Konzentration auf sie werden sie intensiviert und durch die Intensivierung werden sie transformiert. Die Bewegung, die man sieht, folgt im Grunde einem bewegt-Werden, das dem hörenden Kontakt nach innen und nach außen entspringt.
LS: Im Laufe meiner Zusammenarbeit mit der Choreographin Margret- Sara Gudjonsdottir hat sich bei mir ein großes Interesse für somatische Achtsamkeit entwickelt. Ich lernte autonome, dem Körper innewohnende, langsame Bewegungen zu empfinden, und mich von ihnen bewegen zu lassen. Es ist faszinierend, dass es möglich ist, durch somatische Achtsamkeit mit diesen Bewegungen, die nicht bewusst von mir gesteuert werden, zu tanzen. Seither ist das tiefe „Hineinhören“ in den Körper ein fester Bestandteil meiner eigenen Praxis und dient mir als Schlüssel, um mich intuitiv dahin zu bewegen, wo es für mich am interessantesten ist. Ein faszinierendes Phänomen ist hierbei eine wiederkehrende Stille, die ich in den andauernden Explorationen erfahre. Aus ihr heraus und mit ihr zusammen entwickeln sich unerwartete und inspirierende Szenen. Auch die Entwicklung selbst wird dann für sich ein vollwertiges Ganzes. Die Bewegungen sind zunächst von Langsamkeit geprägt. Damit sich das, was ich wahrnehme, entfalten kann, braucht es Zeit – es braucht Entschleunigung. Danach ist alles offen.
Für mich ist es zur Zeit eine Methode des Öffnens, die alles willkommen heißt, was ich empfange. Abgesehen davon, dass meine „Antennen“ auf Empfang gestellt sind, gibt es nichts Verpflichtendes wie einen bestimmten Ablauf oder ein Ziel. Es gibt das Wahrgenommene und meinen Umgang mit selbigem. Seitdem ich mit dir bzw. dir und Moritz zusammenarbeite, fließen einige eurer Ideen und Vorschläge in meine Praxis ein. Ich lenke zum Beispiel meine Aufmerksamkeit gleichzeitig auf mehrere Bezugspunkte und darauf, wie ich Zwischenräume empfinde – und seit Aeon beziehe ich Stimme und Text mit ein.
SM: Was sich beim Zuschauen in und mit und durch dich exponiert, ist ein bewegt-Werden selbst, nicht diese oder jene Bewegung. Diese oder jene Bewegung ist schön und notwendig und faszinierend, aber sie ist Welle eines Strömens, das selbst unsichtbar, sich in den Wellen und zwischen ihnen offenbart. Ein Strömen, vielleicht als hörbares, als das Unbestimmte, das diese oder jene bestimmte Bewegung durchzieht. Eine Bewegung, die in jeder und vor jeder bestimmten Bewegung liegt, und die das Offensein des Körpers für das bewegt- Werden, das Lebendigsein selbst ist.
Eine Bewegung, unbestimmt, die passiert und den Körper durchläuft. Der Körper bewegt sich dann nicht so oder so, sondern empfängt ein Strömen, seine Bewegung, verkörpert sie, ist sie.
Nicht-choreographisch ist dieser – mein/unser – Umgang mit Bewegung, weil das, was geschieht und sich exponiert, woanders ist. Das, was geschieht, ist nicht dort, wo die Choreographie im Sinne einer Gestaltung ist, die diese oder jene bestimmte Bewegung(sfolge, -sprache, -qualität etc.) oder auch diese oder jene spontane Impro zeigen will. Es ist aber auch nicht dort, wo die Performance im Sinne der Bildenden Kunst ist, wenn das bei einer Art Authentizität, Uninszeniertheit des Körpers, einer bestimmten Art von unmittelbarer, ausgesetzter Körperlichkeit ist.
Was du machst, ist weder rein spontan – die Parameter sind sehr klar und der Input (der Umraum und der Text, die Emphase auf den Bezug) haben viel Gewicht; noch ist es choreographiert, weil diese unbestimmte, aber trotzdem spezifische Bewegung nicht choreographierbar ist. Es geht nicht darum, diese oder jene Bewegung zu machen oder zu zeigen. Genausowenig gibt es, sofern die Öffnung auf das Unbestimmte da ist und gelingt, eine „falsche“ Bewegung. Jede Bewegung – selbst wenn einer*m Zuschauer*in aus diesen oder jenen Gründen manche besser gefallen als andere – ist nichts anderes als das Entspringen der Quelle selbst: das bewegt- Werden hier und jetzt.
LS: Es gibt Phasen in den Sessions, in denen ich in einem „Flow- Zustand“ bin. Dann besteht ohne irgendein Zutun eine tiefgehende Verbundenheit und Klarheit. Dieser Zustand hält nicht an, und ich war früher irgendwie immer enttäuscht, wenn er sich verflüchtigt hat. Mittlerweile ist das nicht mehr so.
Wenn er sich verflüchtigt, fange ich wieder an Verbindungen und Bezüge einzugehen – und in diesem neuen Aufbau bin ich schon wieder einbezogen - „drinnen“. Das bewegt-Werden hat begonnen. Das finde ich beruhigend, und Ruhe ist immer gut. Ruhe ist ein Ausgangspunkt, eine Basis, Sicherheit – eine gute Rahmenbedingung für unsere Arbeit. In dem letzten Projekt von dir und Moritz – Chora – gab es einen Schlüsselmoment, in dem ich verstanden habe, dass ich bereits dann „drinnen“ bin, wenn das Bezüge- und Verbindungen-eingehen anfängt, und ich diese wachsen lasse. Das Wachsen-lassen hat, so wie ich es verstehe, mit dem „Sog“ zu tun, von dem du sprichst. Der Sog des Entstehens selbst. Dieser Sog ergibt zusammen mit aktivierten Sinnen eine Offenheit zu dem, was um mich herum und in mir drinnen ist. Ohne die Angst, einen Flow-Zustand nicht zu erreichen, taucht dieser öfter und länger auf. Das ist für mich zwar schön, aber nicht mehr wichtig.
Raum
SM: Der Körper ist im Raum, Teil des Raums und wird von den räumlichen Bezügen bewegt. Der Raum ist konkret und spezifisch: Er ist das Stück Asphalt unter freiem Himmel auf der Landsberger Allee. Der Boden mit dieser bestimmten Härte und Wärme, die Luft mit ihrer aktuellen Temperatur, der Wind, der Himmel mit oder ohne Wolken. Die Straße mit dem Verkehrsstrom zu dieser bestimmten Tageszeit, mit den Sirenen der Einsatzfahrzeuge. Die Grillen, die Vögel, die Schritte der anderen Menschen. All das ist der Raum, in dem der Körper ist und den er mit seinen Sinnen wahrnimmt und spürt, dessen Materialität und dessen Geräusche er aufnimmt und durchlässt und sich als dieses Aufnehmen und Durchlassen bewegt. Auf gewisse Weise ist die Offenheit gegenüber dem Raum auch eine bestimmte Art von Zeit. Es gibt in diesem Verständnis von Raum, von einem sich-vom-Raum- bewegen-Lassen eine eigene Zeitlichkeit, zu der nicht noch ein weiterer, aus dem Raum herausgelöster, von ihm unabhängiger zeitlicher Verlauf dazukommt. Die Räumlichkeit als Aktivität – das sich sinnlich im Raum orientieren, sich von ihm bewegen lassen – bestimmt die Dauer und zwar eine relativ lange. Es passiert immer mehr, je länger es dauert, je feiner und tiefer die Wahrnehmung und Empfindung der inneren und äußeren Umgebung wird.
LS: Diese Arbeit ist offen und weit wie der Ort, an dem ich mich befinde. Es gibt keine äußere Strukturierung der Zeit, kein vorgefertigtes Formen der Aktionen in ihr. Eine Freiheit mit klaren und inspirierenden Bezügen.
Der Raum hat einen enorm hohen „Input“ auf die Wahrnehmung – allein schon der Klang: Flugzeuge und Hubschrauber, Vögel, Sirenen, Grillen, Kinder, eine Waschanlage, meine eigene Stimme und der überaus dominierende Straßenlärm.
Die Straße war zu Beginn der Proben zu brutal. Nach unserer ersten Probe war ich komplett erschöpft. Aber das hat sich gegeben. Soweit ich mich erinnere, haben wir nach der ersten „Lärmerfahrung“ entschlossen, nur eine Session am Tag zu machen. Also die Zeit, die wir genau dort, sehr nah an der Straße verbringen, haben wir gekürzt. Ich habe auch Übung darin bekommen, die Stille in dem Lärm zu finden. Später fühlte ich mich sogar erstaunlich frisch nach den Sessions.
Es gibt Momente, in denen der Straßenlärm leiser wird, oder ganz versiegt. Die Ampeln stehen auf Rot, oder es ist wegen der Tageszeit weniger los. In den Momenten, in denen die Straße leise wird, verbindet sich die plötzlich hergestellte Ruhe mit der, die mich bereits im Lärm begleitet. Ohne die das Öffnen nicht funktionieren würde. Es entsteht eine Form von Synchronizität, die mich interessiert. Sie passiert immer wieder und zeigt sich nicht nur dann, wenn zwei Komponenten im Raum sich ähneln. Sie passiert auch in der Gleichzeitigkeit zweier Extreme. Vielleicht auch immer, wenn sich etwas aus der Wahrnehmung herauskristallisiert – oder zusammenfließt? Ich weiß es noch nicht. Zum Beispiel hat sich einmal eine von mir langsam ausgeführte Drehung durch den Anblick der schnellen Straße noch langsamer angefühlt – und der Strom der Straße noch schneller. Es kam mir so vor, als würde ich mich gegen die Zeit drehen. Ich erinnere mich auch an Momente, die mich in ihrer Schlichtheit berührt haben – einfach, weil sie da sind.
Auf der Brache hat mich neben den Geräuschen und den unterschiedlichen Geschwindigkeiten, die dort herrschen, auch die extreme Spanne der Abstände beeindruckt. Die anderen Menschen waren sehr nah dran und sehr weit weg. Weit weg wie Lisa und Joséphine und die Menschen auf der Straße und in dem Plattenbau gegenüber. Noch weiter weg jene, die wir im Moment nicht sehen, aber die wir mit denen aus unseren Texten in Verbindung bringen. Für mich waren das zum Beispiel diejenigen auf der anderen Brache, und diejenigen, die noch im Bus unterwegs waren, um später da zu sein. Die Texte haben den Raum erweitert.
Das Entfernteste, was ich tatsächlich sehen konnte, war der Horizont. Das nächste war mein eigener Körper und die unmittelbare Umgebung: Gräser, Steine, Asphalt, Sand, manchmal ein Insekt. Es hat etwas gedauert darauf einzusteigen, mit den „Augen zu hören“, da ich meistens eher meinen Tastsinn und die Propriozeption zum Tanzen gebrauche. Ich gebrauche diese Sinne zum Performen auch stärker als den Hörsinn, da ich mit meinen Bewegungen gerne gleichwertig und autonom im Zusammenspiel mit Musik und Geräuschen bleibe. Musik und Geräusche haben einen so großen Einfluss, dass ich verstärkt auf die Körperwahrnehmung hören muss, um mitzuhalten. Ich spiele ja selber. Die Wirkungen der Geräusche entfalten sich durch den mit all seinen Möglichkeiten hörenden Körper. Ich vermute, dass nur durch die verstärkte Selbstwahrnehmung ein Zusammenspiel in einem so geräuschvollen und weiten Raum stattfinden kann, das gleichwertig ist. Und das auch spannende Gleichzeitigkeit ermöglicht. Interessant ist für mich nicht die direkte Reaktion auf was auch immer an diesem Ort ist, sondern das, was danach kommt. Was ausgelöst oder freigelegt wird, und wie es sich entwickelt. Die Reize von außen sind für mich Anreize – Anregungen. Und mit der vielen Zeit in Aeon können sich diese Anreize weit entwickeln. Im Sog des bewegt-Werdens (– in der Entwicklung) gewinnt Synchronizität für mich an Stärke.
SM: Der Raum ist nicht oder nicht nur eine Frage der Position. Es geht nicht nur darum, an welcher Stelle etwas stattfindet bzw. ein Körper ist. Der fühlende, sich bewegende Körper öffnet sich gegenüber dem Raum und seinen Qualitäten, und in dieser Öffnung öffnet sich zugleich der Raum: Er wird selbst fühlbar, sichtbar, hörbar. Die Umgebung geht durch den sich bewegenden Körper hindurch und umfasst auch die, die zuschauen. Sie sehen nicht oder nicht nur diese oder jene spezifische Bewegung, sie sitzen oder stehen nicht einem Bewegungskörper gegenüber, sondern sind eingelassen in ein bewegt-Werden, eine aktive Räumlichkeit. – Dasein als herausstehendes und eingelassenes hier-und-jetzt-wo-Sein.
Der sich im Raum sinnlich orientierende, also sich bewegende Körper verändert durch die Bewegung auch den Raum: In der Landsberger Allee tritt die Weite und die Stille hervor. Es ist wie wenn der Körper in sich und durch sich die Stille und die Weite verdichtet; im bewegt-Werden lässt er den Verkehrsstrom und die Vereinzelung in der großen Fläche durch sich durch und setzt sie transformiert wieder frei. Der Körper bewegt den Raum, und der Raum bewegt den Körper. Und die diesem Geschehen zuschauenden Körper sind Teil davon.
Text
LS: In diesem Jahr hat sich mir im Rahmen der Zusammenarbeit mit dir ein neues Untersuchungsfeld geöffnet. Zum ersten Mal in meiner Laufbahn liegt der Ausgangspunkt der Arbeit in einem Text. Der Bezug zu Text, Sprache und Stimme steht im Mittelpunkt. Seit der ersten Probe hat mich die Intensität der Verbindung zwischen dem tiefen „Hineinhören“ in den Körper und dieser neuen Arbeit in ihren Bann gezogen.
Für mich ist der Text Bewegung. Schon in den ersten Sätzen von Die nackte Erde geht die Bewegung woanders und zu den Anderen hin, kommt zurück zu einem Wir – und dann zu mir. Es gibt das Tasten, Streichen, Berühren, Hören und Spüren. Über die Haut und in den Körper hinein. In die Knochen, und in das Herz. Es gibt das gemeinsame Gehen, Hinlegen und Schlafen. Und zum Schluss gibt es eine Bewegung in eine Vergangenheit, die gleichzeitig Zukunft ist.
Ich lasse diesen Text (der selber wie auch ich beim Performen und seine Autorin beim Schreiben mit den Sinnen spürt) auf mich wirken. Der Umgang ist ein anderer als das Verschmelzen mit ihm und seiner Bedeutung. Er ist eher ein Fremdkörper, dem ich als Partner meine Aufmerksamkeit widme.
Da ich bisher mit meinen eigenen Gedanken als „innerem Text“ gearbeitet habe, die sich mit choreographischen Anweisungen gemischt haben, ist es inspirierend für mich einen fremden Text einzuladen, der für sich genommen ein vollwertiges Kunstwerk ist.
Der Text ist mein „Soundtrack“. Und so, wie ich Bewegungen wachsen lasse, wächst auch die Sprache und der Kanal für die Sprache nach außen. Das Rauslassen, das Aussprechen, das in-den- Raum-Gießen des Textes geschieht intuitiv. Es gibt dabei kein auswendig gelerntes Aufsagen, kein Adressieren, kein Behaupten, keine Intentionen und kein Illustrieren. Stattdessen entwickelt sich der verfügbare Text aus dem Moment heraus. Ich lasse ihn durch mich hindurch wirken, mal aus- und mal unausgesprochen.
Es tauchen Bilder, Interpretationen und Emotionen auf. Manchmal werde ich von einer Bedeutung geradezu überrumpelt.
Ich bleibe oft beim Klang der Vokale und Konsonanten und ihrer Resonanz im Körper. So breitet sich mitunter die Wirkung von einem Satz über einen langen Zeitraum aus. Manchmal fließt die Sprache einfach aus der Stille heraus. Die Frage, wo und wie in der Stille die Sprache ihren Ort hat, wird mich noch lange beschäftigen.
Publikum
SM: Es gibt keinen fixen Ort, von dem aus man der Bewegung zuschaut. Man kann als Besucher*in stehen, sitzen, gehen, wo immer man will. Der Zuschauerraum ist 360°, die Blicke und Energien kommen von allen Seiten und aus sehr unterschiedlicher Distanz. Es gibt auch keinen Anfang und kein Ende, sondern einen Bewegungsstrom, der sehr lange dauert, der begonnen hat, bevor die Leute kommen und endet, wenn sie wieder weg sind. Genauso wenig wie Anfang und Ende gibt es eine vorgeschriebene oder vereinbarte Dauer des Zuschauens.
LS: Das Publikum verändert meinen Zustand, denn dieser beruht auf den Bezügen zu Außen – und Innenräumen, zum Text und deren Wirkungen auf mich. Jetzt kommt mit den anderen Menschen eine starke Komponente dazu, mit der ich weitaus weniger Übung habe. Das Publikum ist mal weit weg von mir, mal nah dran. Es gibt diejenigen, die mit mir zur Ruhe kommen, sich hinsetzen oder legen, lange verweilen. Und Publikum, das kurz vorbeikommt, miteinander redet, gähnt, auf dem Smartphone herumspielt. Manche kommen mit den Kopfhörern zu mir, in denen sie Lisas Stimme hören. Das empfinde ich immer als sehr angenehm, da wir über deine Texte miteinander verbunden sind.
Ich bleibe dabei, mich durch meine Bezüge bewegen zu lassen. Wenn hierdurch ein Blickkontakt entsteht, weiche ich ihm nicht aus. Wenn keiner entsteht, versuche ich nicht ihn herzustellen. Wenn ein Körper nah an mir dran ist, richte ich mich weder bewusst nach ihm aus, noch wende ich mich ab. Je nachdem, wo ich mich gerade in meinem „Koordinatensystem“ (Raum/Text) befinde und wie mich meine Bezüge bewegen, kann ein Blickkontakt jeder Zeit entstehen.
Der Text spricht oft von einem „Wir“ oder „den Anderen“. Wir teilen nicht nur den Raum. Es gibt ebenso eine inhaltliche Verbindung über den Text. Wenn ich ein Wir denke und spüre, hat das direkten Einfluss auf unsere gemeinsame Präsenz.
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